“Vergängliches ist wertvoller als Ewiges”:
Interview mit Streetart-Künstler Decycle

Street-Art-Künstler

Berlin ist die Hochburg des Streetart: In keiner anderen Stadt ist die Vielfalt der Straßenkunst so bunt und zahlreich. Berlin ist somit längst nicht nur wegen seiner Geschichte, den Sehenswürdigkeiten, Kneipen und Clubs für Besucher anziehenden – auch das Streetart ist hier einmalig und rundet den Charme der Hauptstadt ab. 2006 hat sogar die UNESCO Berlin als die “Stadt des Designs” betitelt.
 
Streetart ist eine Kunstbewegung, die es geschafft hat, sich in unserem digitalen Zeitalter zu entwickeln. Sie dient nicht nur als Verschönerung der Stadt, sondern greift auch soziologische und politische Fragen auf und belohnt aufmerksame Flaneure täglich mit Denkanstößen. Denn das Besondere an der Kunstbewegung ist, dass sie im öffentlichen Raum stattfindet. Sie unterscheidet sich somit grundlegend von der Kunst, die man in Museen – also in Räumen für Kunsterlebnisse – auffindet. Die Frage, ob öffentlicher Raum jedoch wirklich öffentlich ist, ist Mittelpunkt vieler Diskussionen: Denn dort wo Global Player der Wirtschaft und Privatunternehmen ihre Finger im Spiel haben, ist vermeintlich öffentlicher Raum stark eingeschränkt.
 
Eine Stadt als Galerie, in der sich Künstler aus aller Welt verewigen – ein schöner Gedanke. Mit ihren Kunstwerken verdeutlichen Streetart-Künstler unter anderem den Stellenwert unautorisierter Kunst für die visuelle Kultur einer Stadt. Einen von ihnen möchten wir euch hiermit vorstellen: Der deutsche Streetart-Künstler Decylce arbeitet mit Paste-ups und hat auch schon Berlins Wände verschönert. Im Interview hat er uns erzählt, wie er dazu kam und was er von der Entwicklung des Street-Arts hält.

Wie kamst du dazu, Paste-Ups als Streetart zu machen?

Als ich damit anfing, meine Schablonen auf die Straße zu bringen, wurde mir schnell klar, dass – wenn ich komplexere Bilder machen würde – ich lange dafür brauchen würde, sie zu malen. Etwas unpraktisch, wenn man ungefragt Wände in der Öffentlichkeit verändert! Da boten sich Paste-Ups an, weil damit die Zeit, die zum Malen benötigt wird, nicht auf der Straße aufgewendet werden muss. Ein weiterer, für mich wichtiger Aspekt ist, dass Paste-Ups nicht permanent sind. Dass die Bilder auf der Straße eben nicht permanent sind und mit der Zeit verwittern und verschwinden, ist insofern wichtig für mich, da ich der Ansicht bin, dass Vergängliches wertvoller ist, als Ewiges.

Was möchtest du als Streetart-Künstler mit deiner Kunst bewirken?

Primär möchte ich eigentlich nur bewirken, dass Passanten in ihrer Nachbarschaft über Kunst stolpern können, mal Kunst sehen zu können, ohne dafür in ein Museum oder eine Galerie gehen zu müssen. Denn gerade diejenigen zu erreichen, die kein Interesse an Museen oder Galerien haben, finde ich interessant.
 
Außerdem möchte ich einen Gegenpol zu der visuellen Vermüllung durch die allgegenwärtige Werbung anbieten. Der öffentliche Raum gehört allen, nicht denen, die bereit sind, für Sichtbarkeit zu zahlen.
Darüber hinaus hoffe ich, dass meine Bilder die Betrachter dazu bringen, sich vielleicht Gedanken zu machen über das, was sie dort sehen. Nicht, weil ich ihnen irgendwelche bestimmten Aussagen aufzwingen will, sondern weil ich ihnen einen Ansatzpunkt für eigene Gedanken geben will.

Nach welchen Kriterien suchst du dir die Orte auf der Straße aus?

Das ist immer wieder unterschiedlich. Der Optimalfall ist natürlich, dass es zwischen dem Ort und dem Bild einen Sinnzusammenhang gibt, was aber natürlich sehr schwierig ist. Es ist meiner Meinung nach die Königsdisziplin, ein Bild so auf die Straße zu bringen, dass der Ort das Bild selbst noch unterstreicht, das Bild mit seiner Umwelt “interagiert”.
 
Meist ist das Hauptkriterium aber, dass das Bild bestmöglich sichtbar ist, damit auch möglichst viele Menschen daran vorbei kommen. Das steht dann aber immer im Konflikt damit, dass das Bild trotzdem so lange wie möglich an dem Ort bleiben soll – es also zwar sichtbar, aber trotzdem schwer erreichbar ist, um ein Abreißen zumindest zu erschweren.

Streetart genießt mittlerweile einen ganz schönen Hype. So haben es z.B. auch bekannte Marken als subkulturelles wirtschaftliches Kapital für sich entdeckt und nutzen es zu Vermarktungszwecken – obwohl in vielen Streetart-Kunstwerken systemkritische antikapitalistische Ansätze zu finden sind. Wie stehst du zu dieser Entwicklung?

Aus ökonomischer Sicht kann ich das verstehen. Jeder Hype wird von Marken für Werbung (aus)genutzt, gerade solche, die sich visuell dazu eignen. Aus künstlerischer Sicht finde ich das ärgerlich bis lächerlich. Ärgerlich, weil manche Menschen dadurch Werbung mit Streetart und Streetart mit Werbung verwechseln. Aber Streetart ist keine Werbung für die Bilder, die viele Streetart-Künstler in Galerien verkaufen.Lächerlich finde ich es, wenn Produkte auf Biegen und Brechen mit Streetart in Verbindung gebracht werden sollen. Ein Streetart-Duschgel? (ja, gab’s wirklich!) Dass Streetart nach Straße stinkt, war dem Hersteller wohl nicht bewusst…

Was ist für dich das Besondere an Straßenkunst – verglichen mit der Kunst, die man in Museen findet?

Die Antwort steckt quasi schon in der Frage: Streetart findet nicht in Museen statt. Gezielt an einen Ort zu gehen, um Kunst zu sehen, widerspricht meiner Meinung nach der Aufgabe von Kunst, und zwar, dass sie den Alltag der Menschen zumindest verschönert. Oftmals besteht ja handwerklich kein Unterschied zu Kunst in Museen. Im Museum kann man erwarten, auch Kunst zu sehen, auf der Straße sieht das anders aus. Unerwartet auf Ästhetisches zu treffen ist meiner Meinung viel spannender, als gezielt danach zu suchen.
 
Zusätzlich ist Streetart im Gegensatz zu Kunst in Museen nicht statisch. Zugegeben, auch in Museen werden gelegentlich Bilder umgehängt, aber es ist doch schon recht selten, dass dort Kunst verwittert, beschädigt oder vollständig zerstört wird. Kunst im Museum sind Konserven – Kunst auf der Straße lebt: sie taucht auf, verwittert und verschwindet. Dass es keine Selbstverständlichkeit ist, dasselbe Bild auch am Folgetag an der selben Stelle sehen zu können. Diese Vergänglichkeit, das ist für mich das Besondere, was Streetart seinen Wert gibt.

Denkst du, dass Streetart effektiv als (politisches) Sprachrohr der Bevölkerung genutzt werden kann?

Selbstverständlich! Es kann nicht nur dazu genutzt werden, sondern wurde und wird zu diesem Zweck genutzt. Gerade Schablonen sind schon immer auch zu politischen Zwecken eingesetzt worden. In kurzer Zeit massenhaft gleiche Botschaften oder Bilder zu produzieren, gerade auch auf der Straße, schreit Förmlich nach Schablonen. Abgesehen davon zeugen vor allem viele Murals von der politischen Nutzung von Streetart, beispielsweise in Süd- und Mittelamerika, aber auch in Irland. Im Endeffekt wird aber auch hier in Deutschland Streetart zu politischen Zwecken eingesetzt, bloß etwas subtiler.

Auf welches deiner Kunstwerke bist du persönlich besonders stolz?

Wow, das ist eine schwierige Frage! Ist so’n bisschen die Frage nach dem Lieblingskind. Ich kann nicht unbedingt sagen, dass ich auf eines meiner Bilder speziell stolz bin, weil es in jedem Bild Details gibt, auf die ich besonders stolz bin. Aber es gibt Bilder auf der Straße, über die ich mich mehr freue, als über andere, sei es, weil sie an Orten kleben, wo sie besonders gut hin passen, oder weil sie sich schon wesentlich länger dort halten als erwartet.

 

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