Die Neurologie-Kultur:
Wie der Mensch Geschmack und Identität durch das Internet neu programmiert

Die Neurologie-Kultur steht am Anfang der Kulturprodukte einer Gesellschaft. Kunst entsteht aus dem Denken des Menschen.  Was ist meine Identität? Was ist meine Rolle in der Gesellschaft? Was ist mein Wert? Während diese und andere Fragen in der Vergangenheit vorrangig im zwischenmenschlichen Umgang beantwortet wurden und sich in einem öffentlichen Meinungsbild einer Gesellschaft wiederfanden, funktioniert die Suche nach Antworten heute anders. Das soziale Verhalten und somit die Identitätsfindung werden durch die Digitalisierung neu definiert, denn Information sowie Informationstechnologie sind demokratisiert.

Der Neurowissenschaftler Gary Small von der Universität Los Angeles geht davon aus, dass durch die Kommunikation im Rahmen einer digitalen Vernetzung und das Internet bestimmte neuronale Bahnen gestärkt und andere geschwächt werden. Laut Smalls führt der verstärkte Umgang mit digitalen Medien zu einer “Schwächung der neuronalen Schaltkreise, die für den zwischenmenschlichen Kontakt zuständig sind”. Auf der anderen Seite profitiert der menschliche Verstand von der Mediennutzung: Die mentale Kapazität und die Schnelligkeit von Gehirnprozessen steigern sich. Inwieweit sich welche Charakteristiken bei dem einzelnen Menschen ausbilden, hängt von sozialen, emotionalen und genetischen Prädispositionen ab. In jedem Fall ist die Kunst um ein Motiv reicher geworden: Gemeinschaft in Zeiten der Isolation.

Es ergibt schon Sinn: Junge Menschen mit einem mangelndem Selbstbewusstsein suchen nach Bestätigung – und zwar dort, wo sich die eigene Peergroup aufhält. Und zwar am besten anonym und unnahbar. Der amerikanische Psychologe E. M. Clerkin erkennt in der Suche junger Menschen nach Anerkennung in den sozialen Medien einen Teufelskreis. Einerseits wird nach Bestätigung gesucht, andererseits wird durch die Isolation ein mangelndes Selbstwertgefühl verstärkt. Dass Menschen den sozialen Kontakt brauchen, um glücklich zu sein, hat bereits Susan Pinker in ihrem Buch “The Village Effect” öffentlichkeitswirksam festgehalten und kurzerhand die Botschaft verkündet: Das gute Leben liegt offline. Ebenso erklärt Small, dass eine übermäßige Nutzung digitaler Medien den Menschen in eine soziale Unbeholfenheit steuern würde; der Mensch verlerne, Informationen von anderen Menschen gleichermaßen anzunehmen, und Gesichtsausdrücke sowie Körpersprache zu interpretieren. Eine noch stärkere Isolation sei die Folge.

Die Hirnforschung hat längst erkannt, dass die kognitive und affektive Auseinandersetzung mit bestimmten Inhalten zur Manifestation von neuen Gedankenmustern führt. Dabei spielt nicht nur das Was, sondern auch das Wie eine wesentliche Rolle bei der mentalen Verarbeitung von Emotionen. Ohne ein soziales Netzwerk vergrößert sich die Dissonanz zwischen sozialem Bedürfnis und Verhalten. Menschen mit einem geringen Selbstwertgefühl sind besonders anfällig für ein starkes, emotionales Echo in den sozialen Medien, welches den Mangel an sozialen Kontakten kompensieren soll. Eine digitale Abwärtsspirale ist die Folge. Mit der Entwicklung neuer Gedankenmuster verändert sich die Wahrnehmung und Bewertung von Inhalten, Informationen und Ästhetik. Die Aufmerksamkeitsspannen werden kürzer; lediglich Inhalte, welche die Gedankenmuster bedienen, sind inspirierend. Trends müssen entsprechende Stimuli bieten, um sich dann zu einem kurzweiligen Hype zu entwickeln.

Wenn Kunstwerke Kulturprodukte einer Gesellschaft sind, welche dessen Werte und Weltbilder darstellen, dann spiegeln sie ebenso die menschliche Identität der jeweiligen Generation wieder. Mit der Digitalisierung ist die Sinnsuche individualisiert worden, die Wege der Meinungsbildung sind vielfältig. Jeder kann schreiben, sagen und ausstrahlen was und wo immer er will. Zeitgleich haben alle Kulturprodukte eines gemein: Der Mensch im Kontext seiner Umwelt. Sozialkritische und flüchtige Kunst ist das Ergebnis – so zum Beispiel bei Banksy oder Marina Abramović. Nicht nur in Social Media, sondern der Kommunikation insgesamt stellt sich das Bedürfnis nach wahrhaftigen Emotionen in den Vordergrund. Fakten geraten in den Hintergrund. Stattdessen dominiert das Empfinden bei der Wahrnehmung als Indikator für den Wahrheitsgehalt und die Relevanz einer Information. Gleiches scheint sich auch in der Politik widerzuspiegeln. Doch wie bei jeder Bewegung wird es vermutlich auch hier ein nüchternes Erwachen geben.

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