Optimismus heißt umgekehrt Sumsi mit Po. Das sollte mal gesagt werden, steht auf einem der vielen Zettel die Joab Nist tagtäglich auf seinem Blog Notes of Berlin digital konserviert. Ob überklebte Straßennamen, behangene Postkästen, bemalte Toilettenkabinen, oder Notizen an Haustüren und Klingelschildern: In der Stadt Berlin herrscht die reinste Zettelwirtschaft. An kaum einem anderen Ort hinterlassen Menschen so viele Botschaften auf ganz unterschiedliche Art und Weise. Wir haben mit Joab über die Faszination der lustigen Zettel gesprochen.
Wie bist du auf die Idee gekommen “Stadt-Zettel” zu sammeln und sie dann in einem Blog zu veröffentlichen?
Ich bin selber vor 12 Jahren von München nach Berlin gezogen. Ich fand es aufregend, durch die Kieze zu gehen und zu gucken, ob man da was findet, was Berlin für einen charakterisiert. Bei diesen Spaziergängen sind mir immer wieder solche Botschaften, meist Zettel, aufgefallen. Einige von denen waren für mich wie ein AHA-Effekt: Ja stimmt, genau das ist für mich Berlin. Das passt genau hier her! Das war für mich wie ein kleiner Reiseführer durch die Stadt – nur auf eine andere Weise erzählt. Ich wollte immer mehr von diesen Zetteln entdecken. Dann habe ich mir gedacht: Wie spannend wäre das eigentlich, wenn ich Zettel finden und dokumentieren kann, die auch aus den Ecken der Stadt kommen, in denen ich mich nicht herum treibe? Da braucht es Mitstreiter. Außerdem fand ich, dass die Zettel eigentlich eine größere Öffentlichkeit verdienen. Die hängen ja nur kurz da und sind dann für immer weg. Eigentlich sind sie Originale und Unikate, wo irgendjemand eine Geschichte erzählt. Sie sollen relativ ungefiltert zeigen, was die Menschen hier bewegt. Dass das sehr oft skurril ist, liegt daran, dass die Protagonisten, die so einen Zettel schreiben, in dem Moment nicht so viel nachdenken. Es kommt halt einfach raus und das ist dann halt oft komisch, aber authentisch.
Was sind das für Botschaften?
Eigentlich die komplette Alltagskultur. Also alle Dinge, die einem so täglich in der Großstadt begegnen. Dass jemand gerade verzweifelt einen Job sucht oder jemanden irgendwo gesehen hat und ihn wiedersehen möchte. Die Stadt ist zu groß dafür, er muss einen Zettel schreiben. Oder man beschwert sich über seinen Nachbarn, der sehr skurril ist. Ganz viele Zettel kommen aus Hausfluren und großen Mietshäusern. In Berlin ist es irgendwie gang und gäbe, dass man nicht klingelt, sondern sich Zettel schreibt, um sich über etwas zu beschweren oder um eine Party anzukündigen. Auf der Straße ist auch die Liebe ein ganz großes Thema. Ganz viele Menschen sehen sich irgendwo, haben die Nummern nicht ausgetauscht, sich nicht angesprochen und wollen sich wiederfinden. In einem Ballungsraum wie Berlin musst du dann halt zum Beispiel einen Zettel schreiben und den da aushängen, wo du die Person das letzte mal gesehen hast, damit du sie wiederfinden kannst. Da bringt dir auch ein Post auf Facebook nichts. Du erreichst mehr Leute, aber nicht die Person, die zufällig auch in diesem Kiez wohnt. Neben Diebstahl ist Sex ein riesen Thema. Wir haben wahnsinnig viele Zettel, wo man die Nachbarn rummachen hört. Es gibt auch politische Botschaften. Lost and found ist natürlich auch ein Klassiker.
Hast du ein paar Beispiele beziehungsweise Highlights, die dir spontan einfallen?
Wenn jemand seinen Stoffbären verloren hat und dann steht auf dem Zettel: “Finderlohn 500 Euro”, dann denkst du dir: War das was drin? Oder ist der was wert? Es gibt auch genau das Gegenteil: “Katze verloren. Finderlohn: Sieben Euro”. Warum Sieben? Ist dir dein Tier nicht mehr wert? Der eine verliert sein Geld, der andere seine Steuererklärung, der Dritte seinen Hamster, den er kurz bei der Bushaltestelle abgesetzt hat, um mal eben in den Späti zu gehen. Dann war der Hamster weg.
Warum gibt es so viele Zettel in Berlin, obwohl vieles nur noch digital stattfindet? Wo liegt der Reiz?
Es ist ein Kommunikationsmedium, was du heute trotz Internet quasi als Gegenentwurf noch nutzt. Wenn du zum Beispiel jemanden suchst und im Internet postet, bringt dir das ja nicht so viel. Wenn du nur deine Leute im Kiez ansprechen möchtest – im Sinne von “mein Fahrrad wurde gestohlen, bitte haltet die Augen offen”. Dann macht es einfach Sinn, das noch auf die alte Art und Weise zu kommunizieren. Ich glaube trotz Apps und der Digitalisierung, sind wir ja alle noch mit Papier und Stift aufgewachsen. Und das wird auch die nächsten Jahre noch so sein und das sollten wir auch nicht verlernen. Ich glaube, dass sich das auch ein bisschen initiiert und zum Mitmachen einlädt. Es hat auf jeden Fall eine viel persönlichere Note, als wenn du einfach irgendwo bei WG-Gesucht dein Inserat aufgibst oder einen Facebook-Post machst. Und es sind die Themen, die wir alle kennen: Fahrraddiebstahl, Liebeskummer, nervende Nachbarn. Das ist eines der Geheimnisse, warum das Projekt so gut funktioniert: Man kann sich damit sehr einfach identifizieren. Du brauchst kein großartiges Vorwissen. Du musst auch gar nicht aus Berlin kommen. Du musst Berlin auch nicht mögen, du kannst Berlin hassen. Denn diese Themen gibt es teilweise auch in anderen Städten. Die Idee ist aber schon, damit Berlin zu charakterisieren und nicht die Zettel an sich. Deshalb ja Notes of Berlin.
Warum denkst du, dass ausgerechnet Berlin so zugekleistert wird?
In Gesamtdeutschland ist Berlin das Mecker der Zettelwirtschaft. Im öffentlichen Stadtbild kann man hier und da mal etwas hinterlassen, ohne, dass das Ordnungsamt gleich um die Ecke kommt. Das ist in München zum Beispiel anders. Das ist eine sehr saubere Stadt. Da siehst du nicht an irgendwelchen Laternen oder Ampelmasten Sachen kleben. Das ist auch verboten. Hier in Berlin sind ja quasi Schichten von Jahren, die sich außen herumwickeln. Es gibt Streetart, Graffiti, Guerilla Gardening – alles so Sachen, wo man auch im öffentlichen Raum mitgestaltend tätig ist. Das prägt glaube ich auch schon so ein bisschen das Gefühl “okay ich kann dort auch einen Zettel hinkleben. Das macht doch jeder”. Alle machen hier irgendetwas. Und das hast du im Vergleich mit anderen deutschen Städten nicht in dem Ausmaß.
Was verraten die Notizen über die Menschen in Berlin?
Es gibt dir einen Einblick: Wovor haben die Menschen Angst? Was treibt sie um? Ist es die Wohnungsnot? Es gibt auch Leute, die sich darüber beschweren, dass das Haus immer internationaler wird. Dann kriegt man auch oft den Eindruck, Berlin ist die Stadt der Singles, Berlin ist einsam und anonym: Wieso suchen die sich alle? Wieso sprechen sie sich nicht an? Wieso hat niemand irgendjemanden? Man merkt auch, dass viele schon manchmal ein bisschen gestresst sind. Man reagiert oft ein bisschen über, man toleriert vielleicht viel, aber irgendwann reicht es einem. Und man nimmt einfach kein Blatt vor den Mund. Wenn du irgendetwas zu sagen hast, dann sagst du es – auch ungefragt. Und ich glaube das ist auch wichtig in so einer Großstadt wie Berlin, dass man sich halt irgendwie Gehör verschafft, auch wenn es anonym ist. Dass du irgendwie raus kannst, du brauchst irgendein Ventil.
Und das ist dann der Zettel?!
Genau, vor allem wenn wir von Beschwerden sprechen. Es zeigt aber auch, wie kreativ Berlin ist. Es gibt Zettel, die sind unfassbar talentiert gezeichnet, geschrieben, richtig um die Ecke gedacht und mit so viel Leidenschaft verfasst. Auch die Leute, die mit einem gewissen Ideal hier herkommen oder einen gewissen Lebensstil leben wollen, spiegeln sich in den Zetteln wieder. Und Naivität. Deswegen ist es wie ein Querschnitt durch all die verschiedenen Bezirke und Mietshäuser. Es sind nicht nur die Hipster aus Neukölln oder Kreuzberg, die da Texten. Was auch wieder zeigt, dass es nicht nur ein Phänomen von jungen oder alten Leuten ist, so einen Zettel zu schreiben. Es ist ein Gesellschaftsding.
Du verbreitest die Zettel auch auf Instagram und Facebook. Warum teilen die Nutzer deine Blog-Inhalte dort so leidenschaftlich?
Weil du die Situation oft nachvollziehen kannst. Das sind so radikale Alltagsthemen, eines davon trifft dich immer irgendwie. Dann willst du das auch mit anderen teilen. Deswegen läuft das so gut auf den sozialen Netzwerken. Leute kommentieren auch viel. Bei manchen Posts entstehen ganz lange Kommunikationsstränge. Das ist auch ziemlich spannend, weil du siehst, was die Menschen umtreibt. Sonst gibt es keine Möglichkeit oder keinen Grund, über solche Themen zu sprechen, weil es keine Plattform dafür gibt. Und weil es eigentlich zu alltagsbezogen ist. Wenn du aber Zettel quasi als Auslöser hast, dann kannst du das Thema auch ein bisschen mehr aufmachen. Deswegen ist es auch oft so, dass so ein Zettel manchmal eine Initialzündung ist. Da kommentieren auf einmal 50 Leute zum Thema zugezogen in Berlin oder zur Ghettofizierung, obwohl das gar nicht impliziert war.
Es gibt bereits Bücher und Kalender über das Zettelphänomen. Und auch ein Film wird kommen. Hast du noch weitere Zukunftspläne?
Neuerdings mache ich Live-Lesungen, mit einem “Best of” der Zettel. Die werden auf Leinwand projiziert und ich interpretiere sie ein bisschen. Mir macht das auch noch mehr Spaß als zu posten, weil ich ja die Reaktionen der Menschen sehe. Dann wird es auch wieder Offline-Ausstellungen geben. Zum Beispiel hat das “The House” Projekt stattgefunden. Das war ein großes urban art Event in Berlin. Da hatte ich zweieinhalbtausend Zettel ausgedruckt und alle in einem Raum an die Wand geklebt. Was sehr spannend war, weil man den Zettel offline wieder dahin bringt, wo er eigentlich herkommt, er durch den Ausdruck wieder haptisch wird. Das ist auf ganzen Wänden gebündelt und du hast nicht wie im Internet einen Zettel, auf den du klickst. Das ist toll, wenn du spürst, wie die Leute dann darüber reden, sich hier und da anstupsen. Du bewegst dich in diesem Raum und da wo dein Auge hinfällt, liest du ein bisschen was, du musst aber auch nicht alles lesen. Du bist dann in so einem Kosmos gefangen.
Hier eine kleine Auswahl an amüsanten Zetteln:
Titelbild: @Leon Kopplow
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