Polyamorie, Polygamie, offene Beziehung, Monogamie, freie Beziehung. Noch nie schwirrten so viele Begriffe in unseren Köpfen, die beschreiben, wie wir mit unserer Partnerwahl grundsätzlich umgehen könnten. Eine große Freiheit, die wir genießen können und genau hier setzt die neuste Inszenierung der Berliner Schaubühne von Patrick Wengenroth an und fragt: Was macht diese Freiheit mit uns? Macht sie uns glücklicher?
Patrick Wengenroth bietet viel Farbe und eine Orgie
„Love Hurts in Tinder Times“ titelt das Stück und lässt den Zuschauer eine Analyse der weit verbreiteten Dating App erwarten. Was hat sich, seit die Onlinedating-Kultur unsere Herzen erobert hat, geändert ? Gegen diese Erwartung kommt das Stück aber weitgehend ohne das Thema Liebe im digitalen Zeitalter aus. Zu Beginn tritt der Regisseur als Frau verkleidet auf die Bühne und singt “Love is a Catastrophe”. Es scheint auch heute nicht besser geworden zu sein mit der Liebe. Das lässt zunächst nicht auf einen heiteren Abend hoffen. Melancholische Musik und Texte über Herzschmerz dominieren. Im Anschluss an den Eröffnungssong werden die drei Hauptdarsteller direkt mit Hilfe einer Orgie eingeführt. Keine Schonfrist für den Zuschauer. Die Schauspieler wälzen sich nackt in Farbe, berühren sich, legen sich übereinander, pressen ihre Körper im Anschluss auf eine „Leinwand“ und bestaunen den Abdruck von ihrem mit Farbe beschmierten Körperteil. Im Grunde machen sie also Portraits, oder, wie wir heute sagen würden, Selfies von sich. Das Ganze passiert aber ganz und gar analog.
Bitte keine Exklusivbeziehungen im digitalen Zeitalter!
Exklusivbeziehungen, das wird bei „Love Hurts in Tinder Times“ klar, sind in unserem Zeitalter kaum möglich. In der Programmbeschreibung steht: “Zur Zeit kommen, auf jede befriedigende Liebesbeziehung, auf jede kurze Zeit der Bereicherung, zehn niederschmetternde Liebeserfahrungen”. Zwei der drei Schauspieler knutschen mitereinander, der Dritte erlebt Herzschmerz, dann wird getauscht, mal Mann und Frau, mal Mann und Mann, mal alle drei. Nichts scheint endgültig zu funktionieren.
Patrick Wengenroth erzählt Geschichten über Pizza und das Fremdgehen
Dem Thema zum Trotz wird das Stück im Verlauf des Abends immer heiterer, was der Zuschauer zum einen der Ästhetik und zum anderen dem Schauspieler Mark Waschke zu verdanken hat. Stilistisch orientiert man sich an die 80er Jahre. Auf ästhetischer Ebene dominieren bunte Farben und musikalisch lassen bekannte Songs den Zuschauer beschwingt mit wippen. Und Mark Waschke? Er wird im Gegensatz zu den anderen Schauspielern eindeutig in den Vordergrund gestellt: Trotz der Gespräche über Herzschmerz, Eifersucht und Begierde, sind seine teils improvisierten Monologe über das Beziehungschaos sehr unterhaltsam. Er fragt sich zum Beispiel: Wann wird ein Stück Pizza zu Mark? Wenn ich es kaue? Oder wenn ich es herunterschlucke? Oder wenn ich es verdaue? Damit leitet Mark zu Beziehungen und Fremdgehen über: Ab wann ist man fremd gegangen? Beim Nachdenken darüber? Nein! Beim Berühren? Nein?! Schlussendlich lautet die Definition: Körperflüssigkeiten sind die Grenze. Streckenweise wurde Marks Selbstinszenierung vielleicht etwas zu lang. Da aber der Regisseur höchstpersönlich mit auf der Bühne war, hieß es einfach zwischendurch: Mark jetzt reicht’s, mach mal weiter. Es wird versucht, den Zeitplan zu retten.
Learning to love yourself is the greatest Love of all?
Wie kann dieses eigentlich so amüsante Stück mit schwerer Thematik zu einem Schluss kommen? Der letzte Satz lautet, gesungen nach Whitney Houston: ‘Learning to love yourself is the greatest Love of all’. Etwas flach kommt die Aussage daher, sagen viele Kritiker. Doch das kann meiner Meinung nach verziehen werden, da sich das Stück selbst auch nicht allzu ernst nimmt. Als sich diese Aussage anbahnt, bricht Mark in Wut aus: Soll es das gewesen sein – nach zwei Stunden? Es mag keine neue Erkenntnis sein, der Abend hinterlässt aber immerhin einen Orientierungspunkt im Liebeschaos des digitalen Zeitalters. Beeindruckend sind der Humor, die scheinbare Leichtigkeit und die Energie der Darstellung. Und eins ist sicher: Bei meiner nächsten Pizza werde auch ich mich fragen, ab wann die Pizza noch Pizza ist und ab wann sie zu Marie wird.
Wo: Schaubühne Berlin
Wann: 13., 14., 15. und 16. Juli 2017
Web: schaubuehne.de
Bilder: @Schaubühne