Der Mensch denkt heute mit den Augen und versucht sich in einer Medienlandschaft voller Symbole zurechtzufinden, in welcher die Grenzen zwischen Alltag, Kunst, Kultur, Religion, Marketing und Aufklärung verschwimmen. Was der User nicht sieht, das existiert für ihn auch nicht. Die Baylor Universität in Texas fand in einer Studie heraus, dass junge Social Media-Nutzer sich und ihren Glauben auf Plattformen wie Facebook oder Instagram vor allem über eine Vielzahl von Optionen definieren. Nicht länger steht ein Regelwerk, eine Ideologie im Zentrum, welches alles Handeln bestimmt.
Der User folgt inspirierenden Impulsen: Ein schönes Bild, ein netter Spruch und viel Zustimmung von der Community, bestenfalls der Peer-Group, machen einen Post für den User relevant. Wenn ihm gefällt, was er sieht, dann liked er den Inhalt und gibt der Welt indirekt zu verstehen, dass dies seiner Persönlichkeit entspricht. So wird jeder neuer gelikter Inhalt auch zu einem Stück Identität derer, welche mit ihm interagieren. Love Brands spielen geradezu mit dem emotionalen Selbstverständnis der Zielgruppe und zielen auf eine Bestätigung des Selbstbewusstseins einer Generation, welche nach Orientierung sucht.
Die Vergangenheit zählt nicht, der User scrollt im Heute
Seit Anfang des neuen Jahrtausends ist für die Generation Y scheinbar nichts mehr für die Ewigkeit. Während die Gestalter von heute in den 1990er Jahren wohlbehütet in einer Überflussgesellschaft aufgewachsen sind, ist mit dem neuen Jahrtausend ein Welle der regelmäßigen Krisen auf das Bewusstsein und das Weltbild der Gesellschaft geschwappt. Ob 9/11, Finanzkrise, Fukushima oder Flüchtlinge: Die jungen Erwachsenen von heute haben mit einer aus den Fugen geratenen Welt bereits ihre erste Fundamentalkrise überwunden. Das Regelwerk ihrer Eltern verspricht ihnen keine Sicherheit mehr. Stattdessen haben sie gelernt, zu beobachten und sich ihre eigene Existenz zusammenzubasteln. Biografiebastler werden sie genannt, welche einen auf Individualisierung zugespitzten, globalen Lebensstil pflegen.
Eine neue Sinus-Studie gibt Einblick in den psychografischen Wandel der Jugendlichen von heute, der Generation nach Y, und betitelt sie als “Generation Mainstream”. Religiöse Institutionen und Ideologien verlieren für sie an Relevanz. Stattdessen zählt vor allem die eigene Geschichte, eine unaufgeregte Normalbiografie mit konservativen Werten, die trotz aller Unsicherheiten Stabilität versprechen und in einem sozialen Miteinander gelebt werden. Darin erklärt sich die Kraft des Social Media: Der Mensch kann selbstbestimmt und erzählend seine eigene Person, seinen Freundeskreis und seine Biografie über Likes, Shares und Kommentare zusammenbasteln.
Selbstfindung durch soziale Interaktion im Netz
Ganz im Sinne der Existenzbastler ergab die Studie der Baylor Universität, dass Nutzer sozialer Medien zu 50 bis 80 Prozent offener für andere Glaubensrichtungen und Weltbilder seien und stärker zu Patchwork-Religionen tendieren. Vor dem Web 2.0 gab es für den einzelnen User ungleich weniger Möglichkeiten, sich in einem digital-soziologischen Umfeld selbst zu finden, darzustellen und durch Interaktion mit anderen Usern inspirieren zu lassen. Heute ist der Mensch nicht mehr auf seine Vorstellungskraft angewiesen, um über seinen sozialen, kulturellen oder emotionalen Tellerrand hinauszuschauen. Seine Welt wird von Medien definiert. Und da der User im Social Media nicht nur Consumer ist, sondern auch selbst Content produziert, liegt sein Leben im digitalen Raum in seiner Hand. Zumindest kann er bestimmen, was andere von ihm wahrnehmen. Schließlich ist es für die Generation Mainstream vor allem das Sichtbare im Leben der Mitmenschen, welches ihnen eine greifbare und glaubwürdige Orientierung gibt. Wenn Ideen und Werte im Feed der Freunde keine Erwähnung finden, scheinen sie auch nicht relevant zu sein.
So ist der Mensch also nicht bloß Mensch, sondern zunehmend User, dessen digitale Identität sich in einer Wechselbeziehung mit seiner Offline-Identität befindet. Denn was digital geschieht ist für den Menschen inzwischen genauso real und relevant, wenn nicht sogar prägender, wie die Erfahrungen im physischen Raum.
Foto @NASA unsplash