“Die Liebe ist tot. Sie wurde durch neue emotionale Formen ersetzt.”, schreibt Eva Illouz, eine israelische Soziologin, im Hinblick auf das Miteinander im digitalen Zeitalter. Ob bei Tinder, Lovoo oder Friendscout: Die Meinungen über die Entwicklung der Beziehungsfähigkeit der modernen Gesellschaft polarisieren. Die einen verkünden euphorisch ein neues Zeitalter der vielen, schönen, kurzen Momente mit verschiedenen Partnern, die anderen beklagen eine Kommerzialisierung des größten Gefühls der Welt. Wer heute über Liebe spricht, bediene sich der Sprache der Marktwirtschaft, wägt zwischen Optionen ab und sucht nach dem emotionalen Mehrwert.
Wie in jedem anderen sozialen Netzwerk muss sich der Nutzer von Dating-Apps selbst segmentieren und in eine Schublade stecken – und macht sich damit vergleichbar; die Emotion gerät somit zu einer Ware. Der User muss sich präsentieren, sich selbst mit Labels versehen und in ein Raster vorgegebener Profileigenschaften einordnen. Erst dann kann es zu einem Match mit einer anderen Person kommen – dies erfordert allein schon der Algorithmus des jeweiligen Online-Dienstes. Experten bezeichnen die jungen Generationen inzwischen als Gefühlsunternehmer, für welche die Liebe zu einem berechenbaren Spiel oder ein kalkuliertes Shopping-Erlebnis geworden ist. Hin und wieder ergeben sich jedoch langfristige Beziehungen. Die Pärchen verfallen dann paradoxweise wieder in eine Argumentation der Romantik: Man habe sich doch irgendwie über die Weiten des Internets gefunden. Der Match wird mystifiziert. Dass es letztendlich ein Algorithmus war, welcher beide Personen zusammengeführt hat, fällt den meisten schwer zu akzeptieren.
Im Zeitalter der Romantik (welche aus historischer Sicht ebenfalls eine moderne Idee ist) könnte man meinen, dass sich niemand gerne in eine Schublade stecken lassen möchte. Die Systematisierung der Persönlichkeit funktioniert dennoch so gut, weil sie dem Narzissmus schmeichelt und gleichermaßen den Nutzer von seiner Unsicherheit befreit. Denn, und das scheint ein ganz entscheidender Punkt des Siegeszuges der Dating-Apps zu sein, der Nutzer muss keinerlei Verantwortung für die Beziehung übernehmen. Er muss weder seinen Mut zusammennehmen und jemanden ansprechen, noch muss er irgendwelche verbindlichen Versprechen machen oder gar in die Beziehung investieren. Stattdessen reicht ein Klick oder ein Wischen mit dem Finger, um zu sagen “I like you” – wenn das Gegenüber ebenfalls mag, dann gibt es einen Match.
“No strings attached” ist ein Motto, welches die wenigsten über ihr Leben deklarieren, nach welchem aber dennoch viele handeln. Eine Studie der Hochschule Fresenius in Köln ergab, dass die Mehrheit der User die App Tinder zum Zeitvertreib, unverbindlichen Amüsement und zur Erzielung von Bestätigung nutzen. Weder Romantik, noch die Suche nach einer ernsthaften Beziehung stehen im Zentrum der Nutzung. Vielmehr geht es um den Konsum. Das Ego diktiert die Intention. Der Erfolgsautor Michael Nast fasst das Lebensgefühl der Tinder-Nutzer in seinem Text “Generation Beziehungsunfähig” zusammen und meint: “Unser gesamtes Wertebewusstsein ist komplett verzerrt, wir sind eine Generation von Selbstdarstellern, auch vor uns selbst. Wir arbeiten die ganze Zeit an dieser Fassade, in den sozialen Netzwerken stellen wir uns nur in Höhepunkten dar. Durch dieses Perfektionsstreben sind die Leute extrem unzufrieden mit sich selbst.” Es scheint, dass die Gewinner in der Gesellschaft diejenigen sein werden, welche über Differenzen hinweg sehen, zufrieden mit sich selbst und offen für den Unterschied sein können – auch wenn die Beziehung mal herausfordernd ist.